...und hier gebe ich Raum für zwei Persönlichkeiten, die mir unvergessen sind.
Leseprobe
aus dem Bereich
Geschichten.
HOMMAGE
FÜR TEMPELHÜTER UND DEN TOTEN VATER.
Die Muskeln angespannt
unter der seidigen Haut, die Ohren aufmerksam aufgerichtet – es braucht nur
eine halbe Parade, gegeben mit ganz weicher Hand, mehr Bestätigung fast als
Aufforderung, und das Pferd, das jetzt ganz versammelt dasteht, wird mit
raumgreifenden Sprüngen davon galoppieren. Aber da sind keine Weiten, die es
durchmessen könnte, keine federnden Wiesen, die unter seinen Hufen erdröhnten.
Mitten in der engen Altstadt steht es, einer Reiterstadt zwar, aber auch hier
sind die Straßen gepflastert, und der kleine Rasenfleck, in den man das Pferd
gestellt hat, darf nicht betreten werden. Und das Pferd ist aus Erz. Es heißt
Tempelhüter und ist eine Legende.
Am
anderen Ende der Stadt, wo Fernverkehrsstraße, Verwaltungsgebäude und Fabriken
ein hektisches und wenig idyllisches Dreieck bilden, ist ein Ort der Ruhe ausgespart:
- der Friedhof. Aus den Reihen der ermüdend gleichen Grabsteine hebt sich der
warme Braunton eines Holzkreuzes ab. Nur ein kleines Emblem ist eingeschnitten
- es zeigt einen springenden Reiter -, darunter ein Name: der Name meines
Vaters.
Dem Pferd, dessen ehernes Standbild in vornehmer
Abgeschiedenheit hinter vergoldetem Schmiedeeisen steht, bin ich nie leibhaftig
begegnet. Und doch ist es für mich wirklicher, als hätte ich ihm Auge in Auge
gegenübergestanden. Die Namen seiner Ahnen kenne ich besser als die meiner
eigenen Vorfahren - von den Eltern Teichrose und Perfectionist
bis hin zurück zu dem legendären Darley Arabian, dessen Porträt an meiner Wand hängt - neben dem
Bild meines Vaters. Mein Vater war es, der mich schon als Kind die Pferde lieben
lehrte, allen voran die Trakehner und - als ihren Inbegriff, ihre Essenz
gewissermaßen: Tempelhüter. Viele Tränen hat diese Liebe mich gekostet, aber
sie hat mich auch tief beglückt. Und ich bin an ihr gewachsen.
Als mein Vater mich
das erste Mal in den Reitstall begleitete und sah, daß ich mir mein Pferd vom
Stallburschen aufzäumen ließ, nahm er eigenhändig das Riemenzeug auseinander
und legte es, ohne ein Wort zu sagen, vor mich hin. Mit hochrotem Kopf und
Tränen der Wut über diese Demütigung in den Augen saß ich auf einem Strohballen
und versuchte, das Zaumzeug wieder zusammen zu schnallen. Es dauerte eine halbe
Stunde, und in dieser halben Stunde hasste ich meinen Vater, wie ich noch
niemals einen Menschen gehasst hatte. Wenig später glühte ich vor Stolz
darüber, dass ich meinem Pferde nun selbst den Zaum anlegen konnte, ohne dass
Riemen und Schnallen sich hoffnungslos verwirrten. Das Lob des Reitlehrers
freute mich nicht halb so sehr wie der anerkennende Blick meines Vaters.
Dieser Blick, dem nichts entging und der mir nichts durchgehen ließ: weder ein schlecht geputztes Pferd noch schlecht geputzte Stiefel. Geradezu vernichtend war der Blick seiner hellen Augen, als er mich einmal mit Sporen an den Stiefeln nach Hause kommen sah. Deutlich las ich darin die Enttäuschung darüber, meine reiterlichen Fortschritte durch diese billige Angeberei entwertet zu sehen. Ich habe nie wieder Sporen getragen, wenn ich nicht im Sattel saß.
Mehr sein
als scheinen - das war die Maxime meines Vaters. Einem Pferd kann man nichts
vormachen. Man muss bei der Sache sein und seine Sache verstehen - sonst geht
es mit einem durch. Man kann auch nicht mogeln - das Verhalten des Pferdes
macht sofort jeden Fehler sichtbar. Und man muss sich selbst beherrschen, nur
dann geht das Pferd willig an der Reiterhand, ordnet es seine überlegene
Körperkraft sanft dem Willen des Menschen unter. Mehr sein als scheinen - das
galt fürs Reiten und fürs Leben.
Mein
Vater war nüchtern, beharrlich, bescheiden, mit einem ausgeprägten Sinn für Realitäten,
besaß somit alle jene Eigenschaften, die schon immer den Grenzlandbewohner
auszeichneten. Ich dagegen neigte zum Schwärmen, zur Oberflächlichkeit, suchte
gerne den leichteren Weg. Seine Ansichten waren mir ein Ärgernis und brachten
mich oft in Zorn. Aber sie waren mir niemals gleichgültig. Mehr als die sanfte,
begütigende Mutter wurde mir der Vater zum Maß aller Dinge - indem ich verwarf,
was er schätzte, und ablehnte, was ihm wichtig war. Und immer hat er sich mir
gestellt, hat sich nie gedrückt, hat mir die Stirn geboten und mir in die Augen
gesehen.
Manchmal
ritten wir Seite an Seite durch den morgendlichen Stadtpark. Es war Herbst und
unter den Pferdehufen raschelte das Laub. Dann sangen wir lauthals die alten
Reiterlieder - den Hohenfriedberger Marsch und
"Wir sind ja die Husaren" und "Auf, auf Kameraden". Ich
zuckte nicht einmal mit der Wimper bei diesen kriegerischen Versen - soviel
Frieden war zwischen uns, den das Säbelrasseln der Lieder nicht beeinträchtigen
konnte. In diesen Stunden liebte ich meinen Vater mehr als irgendeinen anderen
Menschen auf der Welt.
Aufgewachsen
war mein Vater in der Nähe Trakehnens. Immer wieder
schilderte er mir die Menschen und die Landschaft, und immer wieder beschrieb
er mir die ostpreußischen Pferde, ihre Härte und Anspruchslosigkeit, ihre
Schönheit, ihre Klugheit, ihren Adel. Kaum achtzehnjährig, ging mein Vater zur
Kavallerie. Diese Jahre bildeten den Höhepunkt seines Lebens, waren sein
wirkliches, sein eigentliches Leben. Ich kenne die Namen, das Aussehen und die
Eigenschaften aller seiner Pferde. Mir ist, als wäre ich ihnen selbst begegnet
- und bin ich es nicht, indem ich sie durch seine Augen sah? -: dem mächtigen
Ofensetzer, der koketten Cherry Brandy, der windschnellen Gelben Gefahr, mit
der er fast zu Tode gestürzt wäre.
Von Manövern und Jagden und glanzvollen Paraden erzählte mein Vater, und sein Gesicht wurde hell und ganz jung dabei. Dann erzählte er vom Krieg, und Wärme und Dankbarkeit war in seinem Blick, wenn er von den tapferen, zähen Pferden sprach. Schließlich verdüsterte sich seine Miene - der Krieg trat in ein Stadium, wo für Pferde kein Platz mehr war. Ich konnte nur ahnen, wie schwer es gewesen sein mochte, ritterlich zu handeln - zuerst im Krieg, dann in der Enge und Beschränkung der Nachkriegszeit, vor allem aber in der Sattheit und Selbstgerechtigkeit, die darauf folgte.
Wir
hatten einen gemeinsamen Traum, mein Vater und ich: den Traum, ein eigenes
Pferd zu haben. Natürlich lag dies gar nicht im Bereich unserer Möglichkeiten,
aber der Traum brachte uns einander näher, als es jedes andere Band vermocht
hätte. Wir schmiedeten die wahnwitzigsten Pläne, wie an das erforderliche Geld
zu kommen sei - dass wir uns in den Ferien als Zirkusreiter verdingen wollten
oder auch als Pferdepfleger bei einem arabischen Potentaten. Die Mutter
schüttelte den Kopf zu solchen Phantastereien, und sie wurde regelrecht
besorgt, als wir damit begannen, umherzufahren und Gestüte zu besuchen. Unserem
"Traumpferd" begegneten wir bei einem Züchter in Norddeutschland. Es
war ein braunes Stutfohlen mit einem kleinen weißen
Stern auf der Stirn. Über Pythagoras und Totilas
stammte es direkt von Tempelhüter ab. Nie vergesse ich die fast ehrfürchtige
Geste, mit der mein Vater den edlen kleinen Pferdekopf berührte. Natürlich
kauften wir das Fohlen nicht, aber noch lange nachher beglückte uns die
gemeinsame Erinnerung.
Dann
begann ich, andere Träume zu träumen. Die Zeiten änderten sich, und ich änderte
mich ebenfalls. Mein Vater starb und mit ihm starben seine Ideale. Aber heute
ist mir manchmal, als ruhte sein heller Blick auf mir - unbestechlich und
voller Echtheit und Klarheit. Und ich beginne meine Handlungen daran zu messen,
ob ich diesem Blick begegnen könnte.
Es würde
meinen Vater freuen zu wissen, dass ein Abbild von Tempelhüter nicht weit
entfernt von seinem Grabe steht. Manchmal lege ich einen Strauß auf meines
Vaters Grab und eine Blüte aus dem Strauß vor die ehernen Pferdehufe - mit reiterlichem
Gruß.